Lebenswerk (2009)

Wolfgang Schäuble

Bundesinnenminister Dr. Wolfgang Schäuble erhält den BigBrotherAward 2009 in der Kategorie „Lebenswerk“ für den Umbau des BKA in ein zentrales deutsches FBI mit geheimpolizeilichen Befugnissen zur präventiven Vorfeldausforschung, für die Legalisierung der heimlichen Online-Durchsuchung von Computern, für die Errichtung einer gemeinsamen Antiterrordatei sowie einer neuen Abhörzentrale für alle Sicherheitsbehörden. Besonders „preiswürdig“ sind Schäubles obsessive Bestrebungen, den demokratischen Rechtsstaat in einen präventiv-autoritären Sicherheitsstaat umzubauen. Dies führte zu einer gefährlichen Entgrenzung von Polizei, Geheimdiensten und Militär und damit zu einer Gefährdung von Bürgerrechten, Datenschutz und Demokratie.
Laudator:
Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)

In der Jury bestand große Einigkeit, dass Wolfgang Schäuble in diesem Jahr, zum (mutmaßlichen) Ende seiner politischen Karriere als Bundesinnenminister, der BigBrother-Lifetime-Award für langjährige „Verdienste“ gebührt – wohlwissend, dass wir im Rahmen der Verleihung dieses Negativpreises einer solchen Persönlichkeit und seiner bisherigen Lebensleistung bei Weitem nicht gerecht werden können.

Bereits im Jahr 2007 hatte sich der Preisträger als Traumkandidat für den BigBrotherAward geradezu aufgedrängt. Und dennoch musste er damals leer ausgehen – zur Verwunderung und Enttäuschung mancher Beobachter. Denn ihrer Ansicht nach hätte er den Preis für seinen obsessiven Antiterrorkampf Jahr für Jahr verdient – überqualifiziert wie seinerzeit nur sein Vorgänger im Amt, Otto Schily (SPD).

Damals, im Jahr 2007, hatten wir ihm den Preis aus zwei Gründen verweigert: Zum einen hielten wir es für falsch, sich zu sehr auf Schäuble zu konzentrieren, ihn zu dämonisieren und die Terrordebatte auf diese Weise zu verengen. Tatsächlich sehen wir „Schäuble“ nur als Metapher für die verhängnisvolle (weltweite) Tendenz einer „Terrorismusbekämpfung“ auf Kosten der Bürgerrechte und für eine Systemveränderung zu Lasten des demokratischen und sozialen Rechtsstaats. Zweitens hatten wir die Befürchtung, Schäuble könne die Verleihung als besonderen Ansporn verstehen, seine „sicherheitsextremistischen Bestrebungen“ noch zu verstärken, um seiner offenkundigen Vision vom präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat näher zu kommen.

Doch da hatten wir Herrn Schäuble gründlich unterschätzt – er tat dies auch ganz ohne diesen Ansporn und blieb sich beängstigend treu. Vor einer auch und gerade von ihm stark überzeichneten Bedrohungskulisse versuchte sich Schäuble als Retter in der Not – mit einem wahren Stakkato grundrechtssprengender Denkanschläge, die er fast täglich verübte. In seinem Eifer schreckte der Preisträger selbst vor Ideen aus dem Arsenal von Diktaturen nicht zurück: Internierung islamistischer „Gefährder“, denen keine Straftat nachzuweisen ist, Nutzung erfolterter Aussagen durch deutsche Sicherheitsorgane, gezielte Tötung von Topp-Terroristen – Denkansätze eines Sicherheitsministers im Ausnahmezustand, dem offenbar jegliches Unrechtsbewusstsein, aber auch der Realitätsbezug abhanden gekommen sind. Das zeigte auch sein kläglich gescheiterter Vorstoß, die Altersgrenze für großkalibrige Waffen von 21 auf 18 Jahre abzusenken.

Was der Minister mit seinen menschenrechtswidrigen Vorschlägen erreichte, ist eine gefährliche Enttabuisierung, die an die demokratischen Grundfesten rührt und einer weiteren Entfesselung staatlicher Gewalten den Weg ebnet. Das zeigen seine Überlegungen, Terroristen als Feinde der Rechtsordnung teilweise rechtlos zu stellen; das zeigt aber auch seine provokante Äußerung, bei der Terrorabwehr gebe es nun mal keine Unschuldsvermutung – womit er eine der wichtigsten rechtsstaatlichen Errungenschaften für weitgehend erledigt erklärt. In Schäubles präventiver Sicherheitskonzeption mutiert der Mensch zum Sicherheitsrisiko und die „Sicherheit“ zum Supergrundrecht, das alle Bürgerrechte – als Abwehrrechte gegen Eingriffe des Staates – praktisch in den Schatten stellt.

Abgesehen von einer ganzen Reihe von Gesetzesverschärfungen gilt Schäubles größte Obsession einer neuen – vernetzten und integrierten – Sicherheitsarchitektur und damit einem radikalen Umbau des demokratischen Rechtsstaates. Im Kern geht es ihm um zwei Strukturveränderungen, die man getrost auch als Tabubrüche bezeichnen kann, weil sie nicht zuletzt auf dem Hintergrund deutscher Geschichte von Bedeutung sind:

1. Schäuble hat sich in besonderem Maße die Zentralisierung, Vernetzung und Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten zum Ziel gesetzt, dem er mit drei Projekten entscheidend näher gerückt ist:

  • Zunächst mit dem brisanten Projekt einer Antiterrordatei, die sowohl von allen Polizeien des Bundes und der Länder als auch von allen Geheimdiensten bestückt und genutzt wird;
  • dann mit dem Umbau des Bundeskriminalamtes zu einem zentralen deutschen FBI, dem nun auch geheimpolizeiliche Befugnisse zur präventiven Vorfeldausforschung zustehen – inklusive Großem Spähangriff in Wohnungen sowie heimlicher Online-Durchsuchung von Computern,
  • und nicht zuletzt mit der neuen Bundesabhörzentrale für alle Sicherheitsbehörden, die vor Kurzem beim Bundesverwaltungsamt in Köln ohne gesetzliche Grundlage eingerichtet wurde.

Mit dieser Strukturentwicklung wächst praktisch zusammen, was nicht zusammen gehört. Das ist ein Verstoß gegen das machtbegrenzende Gebot der Trennung von Geheimdiensten und Polizei – einer ganz wichtigen Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo der Nazizeit. Dieser Verschmelzungsprozess im Staatsgefüge lässt die staatliche Machtfülle wachsen und deren Kontrollierbarkeit schwinden – mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die Wirksamkeit der Bürgerrechte und des Datenschutzes.

2. Seit Jahren erleben wir eine Militarisierung der „Inneren Sicherheit“, in deren Mittelpunkt der Bundeswehreinsatz im Inland steht – obwohl hierzulande Polizei und Militär schon aus historischen Gründen sowie nach der Verfassung strikt zu trennen sind. Und auch für diese Entwicklung steht unser Preisträger in besonderem Maße: Schäuble will die Bundeswehr nicht nur im Spannungs- und Notstandsfall, sondern regulär als nationale Sicherheitsreserve zur Unterstützung der Polizei im Inland einsetzen können – auch im „Quasi-Verteidigungsfall“, als dessen Erfinder er gilt, auch mit militärischen Mitteln und nach Kriegsrecht und damit ohne die lästigen Fesseln des Rechtsstaats. Zu diesem Zweck holt er immer wieder zum Schlag gegen die Verfassung aus und trachtet – zusammen mit Verteidigungsminister Jung (CDU) – danach, die verfassungsmäßige Trennung zwischen äußerer und innerer Sicherheit, zwischen Militär und Polizei zu schleifen.

Schäuble ließ selbst zu Ende seiner Ministerzeit nicht locker, wie eine giftige Hinterlassenschaft seines Ministeriums beweist: Eine sicherheitspolitische Horrorliste soll der neuen Regierungskoalition als Agenda dienen, auf der all jene Instrumente stehen, die Schäuble in der großen Koalition nicht durchsetzen konnte – vom erweiterten Bundeswehreinsatz im Innern bis zur „Fortentwicklung des Verfassungsschutzes“ zu einer neuen Geheimpolizei.

Wo soll das alles enden? Wo doch schon angesichts der bisherigen Sicherheitsgesetze das Bundesverfassungsgericht kaum noch nachkommt, etliche davon ganz oder teilweise für verfassungswidrig zu erklären. Tatsächlich manifestiert die hohe Anzahl grundrechtswidriger Antiterrorgesetze und -maßnahmen der letzten Jahre ein katastrophales Verfassungsbewusstsein in der politischen Klasse und in mancher Sicherheitsbehörde. Eine höchst beunruhigende Entwicklung – zumal verantwortliche Politiker mitunter unverhohlene Verachtung gegenüber solchen Gerichtsentscheidungen zeigen und gar öffentlich ankündigen, die Urteile nicht beachten oder mit Grundgesetzänderungen unterlaufen zu wollen.

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble ist ein herausragendes Beispiel für diesen Politikertypus. Er geißelt schon seit Längerem den „Expansionismus des Verfassungsrechts“ und die „fortschreitende Konstitutionalisierung der Tagespolitik“, die zu einer „Entmachtung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers“ führe. So beklagte er sich schon 1996 in einem FAZ-Artikel mit dem Titel „Weniger Demokratie wagen?“ darüber, dass gewöhnliche politische Entscheidungen „schon fast gewohnheitsmäßig“ zu Verfassungsfragen hochstilisiert würden. Mit dem Hinweis auf die Verfassung würden Tabuzonen gegen politisch gewollte Veränderungen geschaffen und damit politische Gestaltung „stranguliert“ und zum bloßen „Verfassungsvollzug“ degradiert. Deshalb bezeichnet Schäuble die Verfassung auch als – so wörtlich – „Kette, die den Bewegungsspielraum der Politik lahm legt“.

Die in solchen Sätzen anklingende Verfassungsdistanz hat sich Schäuble auch als Innenminister bewahrt. So fordert er weiterhin unverdrossen, den Abschuss entführter Passagierflugzeuge zur Abwehr von Terrorangriffen per Grundgesetzänderung zu erlauben – obwohl das Bundesverfassungsgericht zuvor eine solche Lizenz zur gezielten Tötung unschuldiger Passagiere unmissverständlich für verfassungswidrig erklärt hatte, weil sie gegen die Menschenwürde verstößt.

Wegen seiner Forderung geriet Schäuble gehörig mit Richtern des Bundesverfassungsgerichts aneinander, deren „Belehrungen und Ratschläge“ er sich kategorisch verbeten hat: Verfassungsrichter seien nicht demokratisch legitimiert, insoweit Ratschläge zu erteilen. Es sei allein „Sache des Gesetzgebers“, die Grenzen der Grundrechte festzulegen. Verfassungsrichter sollten gefälligst damit aufhören, der Politik bei der „Durchsetzung des Rechts“ ständig in den Arm zu fallen.

„Alle grundrechtlich geschützten Bereiche“, so Schäuble, „enden irgendwo“ – und er nimmt davon auch die Menschenwürde nicht aus. Damit stellt er ihre Unantastbarkeit in Frage, letztlich den Kernbestand des Grundgesetzes. Der konservative Verfassungsrichter Udo di Fabio warnte – mit Blick auf Schäuble – vor einem „präventionstechnischen Überbietungswettbewerb“ im Kampf gegen den Terror und vor der „intellektuellen Lust am antizipierten Ausnahmezustand“.

Und er fügte hinzu: Die Sprache der „Sicherheitsapologeten in Berlin" erinnere „nicht zufällig an den scharfsinnigen Geistesverwirrer Carl Schmitt“ – jenen umstrittenen Staatsrechtler, der als furchtbarer „Kronjurist des Naziregimes“ gilt. Und tatsächlich stützt sich unser Preisträger auf Verfassungsrechtler, die das geistige Erbe Schmitts angetreten haben, wie etwa der Kölner Professor für Staatsphilosophie, Otto Depenheuer, dessen teils verfassungsfeindlich klingende Streitschrift „Selbstbehauptung des Rechtsstaats“ Schäuble offen zur Lektüre empfiehlt: Darin fordert Depenheuer im Kampf gegen den Terror „Bürgeropfer“ – auch Menschenopfer – und rechtfertigt Guantànamo als „verfassungstheoretisch mögliche Antwort im Kampf der rechtsstaatlichen Zivilisation gegen die Barbarei des Terrorismus“. Schäubles Härte in punkto Nicht-Aufnahme von ehemaligen Gefangenen, die in Guantànomo gefoltert wurden, dürfte auf solch feindrechtlicher Gesinnung beruhen.

Alles in allem: Unser Lifetime-Preisträger hat sich in seiner Amtszeit als Architekt eines präventiven Sicherheitsstaates betätigt. Damit hat er als oberster Verfassungs- und Datenschützer, der er als Bundesinnenminister war, genauso grandios versagt wie weiland Otto Schily. Er ist dabei nicht nur seiner vornehmsten Aufgabe in keiner Weise gerecht geworden, sondern entwickelte sich selbst zu einem Sicherheitsrisiko – oder in seiner eigenen Diktion: zum „Gefährder“ von Demokratie, Menschenrechten und Datenschutz.

Viele Menschen stellen sich die Frage, ob der auffällige Sicherheitsfanatismus des Herrn Schäuble und seine zwanghafte Angst vor einem Kontrollverlust möglicherweise mit dem Attentat zu tun haben könnten, das er 1990 schwer verletzt und mit tragischen Langzeitfolgen überlebte. Die durchaus interessante Frage, ob er nicht nur an den körperlichen Folgen leidet, sondern auch an einer traumatisierten Psyche, die seine Wahrnehmung trübt, ist Thema vieler Diskussionen. Zwar ist bekannt, dass sich eine Posttraumatische Belastungsstörung auf die Fähigkeit auswirken kann, Gefahrensituationen richtig einzuschätzen und angemessen auf sie zu reagieren. Dennoch halten wir eine Psychologisierung der Sicherheitspolitik des Preisträgers für eher problematisch und spekulativ. Wir gehen davon aus, dass Schäuble schon früher ein konservativer Politiker war, der einem starken Sicherheitsstaat im Kampf gegen das Böse frönte. Im Übrigen ist die Basis für seine Politik längst gelegt worden – zuletzt mit den berühmt-berüchtigten „Otto-Katalogen“ seines staatsautoritären Vorgängers Otto Schily, dem ansonsten keine posttraumatischen Störungen nachgesagt werden.

Auch wenn die Freiheit schäublesweise zu sterben droht – so möchten wir heute auch positiv denken. Denn der Innenminister hat sich ganz nebenbei und durchaus unfreiwillig beachtliche Verdienste um das Datenschutzbewusstsein der Bürger erworben: Ziehen diese doch inzwischen zu Zehntausenden vor das Bundesverfassungsgericht, um gegen die Vorratsdatenspeicherung zu klagen – die größte Massenbeschwerde in der bundesdeutschen Rechtsgeschichte (die Schäuble zu dem ungeheuerlichen Hitler-Vergleich inspirierte: „Wir hatten den ‚größten Feldherrn aller Zeiten’, den GröFaZ, und jetzt kommt die größte Verfassungsbeschwerde aller Zeiten“). Zehntausende von Menschen gehen inzwischen auch Jahr für Jahr unter dem Motto „Freiheit statt Angst – Stoppt den Überwachungswahn“ auf die Straße, um gegen Schäubles Politik zu protestieren. Und unser Preisträger immer mittendrin und tausendfach präsent: als Stasi-2.0-Schäublone auf Transparenten, Fahnen, T-Shirts und bunten Luftballons – was er, wohl nicht ganz zu Unrecht, als „Beleidigung“ empfindet. Die Regieverantwortung für „Das Leben der Anderen – Teil 2“ möchte er ganz offenbar nicht übernehmen. Und auch wir erwarten zum Abschluss seiner Karriere als Sicherheitsminister kein entschuldigendes „Ich liebe Euch doch alle!“ Obwohl wir davon ausgehen, dass auch unser Preisträger mit seiner fürsorglichen Belagerung nur unser „Bestes“ wollte – das wir aber, so weit es geht, behalten wollen: Privatheit, Freiheit und Demokratie.

In diesem Sinne, herzlichen Glückwunsch, Herr Dr. Schäuble, zum Big-Brother-Lifetime-Award.

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Portraitaufnahme von Rolf Gössner.
Dr. Rolf Gössner, Internationale Liga für Menschenrechte (ILFM)

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