Polizei Sachsen
Der BigBrotherAward 2024 in der Kategorie „Behörden und Verwaltung“ geht an
die Polizei Sachsen, vertreten durch den sächsischen Innenminister Armin Schuster,
für ihr „videogestütztes Personen-Identifikations-System“ (kurz: PerIS).
Stellen Sie sich vor, sie laufen durch eine Stadt, wo an jedem Haus und an jeder Straßenecke Kameras sind. Diese Kameras scannen die Umgebung und erfassen alle Autokennzeichen und alle Gesichter der Passanten biometrisch. Dadurch können die Behörden jederzeit nachvollziehen, welches Auto und welcher Bürger sich zu welchem Zeitpunkt dort aufgehalten hat. Eine dystopische Zukunftsvision aus einem Science-Fiction-Film? Oder eine Szene aus einer Großstadt in China?
Die Polizei in Sachsen hat 2019 – relativ unbemerkt von der Öffentlichkeit – angefangen, an der polnischen Grenze in großem Stil Kamerasysteme zu installieren, die in der Lage sind, alle vorbeifahrenden Fahrzeuge – und vor allem deren Insassen – elektronisch zu erfassen.
Die Motivation dahinter: Die „grenzüberschreitende Kriminalität“ sollte eingedämmt, Schlepperbanden sollten verfolgt und mehr schwere Einbruchsfälle aufgeklärt werden.
Ein wahrer Big-Brother-Traum
Um all das legal möglich zu machen, wird 2019 der § 59 in das Sächsische Polizeivollzugsdienstgesetzes aufgenommen. § 59 regelt den „Einsatz technischer Mittel zur Verhütung schwerer grenzüberschreitender Kriminalität“. Damit sind nicht nur Videoaufnahmen von Fahrzeugen möglich – das lässt auch den biometrischen Scan der darin sitzenden Personen zu. Außerdem dürfen die Bewegungsdaten des Fahrzeugs erfasst werden. Die Polizei kann damit die Fahrtrouten von „interessanten“ Personen verfolgen. Bequem, vom Schreibtisch aus. Zum Einsatz kommt dabei das „PerIS“ (Abkürzung für Personen-Identifikationssystem) der Firma OptoPrecision aus Bremen.
„PerIS“ ist der wahr gewordene Big-Brother-Traum: Hochempfindliche Kameras können durch die Autoscheibe hindurch die Gesichter aufnehmen und biometrisch scannen. Das bedeutet: sie werden automatisiert mit Fotos abgeglichen und identifiziert, um zu prüfen, ob die fragliche Person für die Polizei interessant ist. Die Kameras sind an Straßen nahe der Grenze zu Polen installiert, z.B. in Görlitz oder Zittau. Das Gesetz erlaubt den Einsatz allerdings noch an Orten bis zu 30 km ins Bundesland hinein (das ist etwa die Hälfte von Sachsen).
So eine dauerhafte Überwachung von vorbeifahrenden Autos bedeutet aber, dass eine Vielzahl von unbeteiligten Personen biometrisch erfasst wird, außerdem werden auch Fußgänger und Radfahrer aufgenommen. Weil dies ein besonders schwerer Eingriff in die Grundrechte ist, wurde die Gültigkeit von § 59 schon bei seiner Einführung auf Ende 2023 befristet.
Da von Anfang an erhebliche Zweifel an den weitreichenden polizeilichen Maßnahmen in Sachsen bestanden, haben einige Abgeordnete nach Verabschiedung des Gesetzes eine Normenkontrollklage beim Sächsischen Verfassungsgerichtshof eingereicht1, mit dem Ziel, die Zulässigkeit der neuen Befugnisse zur überprüfen. Mit Erfolg: Noch vor der Urteilsverkündung erklärte das Innenministerium, dass man PerIS in der aktuellen Form nicht weiter einsetzen werde.
Das war im Dezember 2023.
Bleibt die Frage: was passiert jetzt eigentlich mit den Kameras, die an der polnischen Grenze installiert sind? Bleiben als Attrappe stehen, zur Abschreckung?
Interessanterweise wurden Ende 2023 sogar noch neue Kamerasäulen installiert. Eine Bestellung, die sich nicht mehr stoppen ließ? Oder werden sie weiterhin genutzt, nur ohne Rechtsgrundlage?
Amtshilfe-Schlager
Eher durch Zufall kam heraus, dass das System bei den Polizeibehörden anderer Bundesländer Begehrlichkeiten geweckt hat: Man wollte auch PerlS einsetzen – aber ohne eine entsprechende Rechtsgrundlage ist die Anschaffung durch die Polizei nicht möglich. Aus Berichten von Lokalmedien wissen wir aber, dass PerIS auch als mobile, „verdeckte“ Variante – eingebaut in Autos, oder in einem Busch versteckt – von Sachsen angeschafft wurde. Das ist insofern überraschend, als der § 59 des Sächsischen Polizeivollzugsdienstgesetzes ausdrücklich nur „offene“ technische Mittel vorsah, also Kameras, die als solche erkennbar sind. Wie ist das zu erklären?
Was wir wissen: Diese Geräte sind mittlerweile zum Exportschlager – oder besser: „Amtshilfeschlager“ – geworden. Fast bundesweit hat sich die jeweilige Polizei der jeweiligen Länder das mobile PerlS-System schon für eigene Ermittlungen ausgeliehen, wie nun scheibchenweise, meist erst durch parlamentarische Anfragen, bekannt wird.
Echtzeitverzögerung
Da eine rechtliche Grundlage für den verdeckten Einsatz von PerlS nicht existiert – weder in Sachsen noch in anderen Bundesländern –, beruft man sich für die Verwendung in Ermittlungsverfahren in der Regel auf § 100h II Nr. 1 StPO („Video-Observation“), der eine Kameraüberwachung auch von Unbeteiligten gestattet.
Die großflächige, automatische biometrische Erfassung in Echtzeit ist im Rahmen einer solchen Maßnahme nach Meinung von Juristen aber verfassungswidrig.
Mindestens im rechtlichen Graubereich bewegt sich die sogenannte „retrograde“, also nachträgliche biometrische Erkennung von Personen. Ein solches Verfahren ist zum Beispiel von der Polizei in Hamburg angewendet worden, um in Videoaufnahmen einer Demo nach bestimmten Personen zu suchen.
Um die biometrische Erkennung mit PerIS „in Echtzeit“ betreiben zu können, biegt sich die Polizei den rechtlichen Rahmen also entsprechend zurecht: Die Software wird so eingestellt, dass die Erkennung nicht in Echtzeit passiert, sondern „später“, retrograd. Was „später“ bedeutet, ist allerdings nirgendwo festgeschrieben. Es reichen vermutlich einige Sekunden Verzögerung, um nicht „in Echtzeit“ zu arbeiten. Hier wird die gesetzlich erlaubte „kurzfristige“ Speicherung von Bildern missbraucht, um sie „retrograd“ für eine Gesichtserkennung zu nutzen.
Dauerüberwachung
In offiziellen Erklärungen zum Einsatz sogenannter „eingriffsintensiver“ Kamerasysteme heißt es, diese Systeme würden nur in konkreten, richterlich angeordneten Ermittlungsmaßnahmen zum Einsatz kommen – eine „Dauerüberwachung“ sei ausgeschlossen. Das war allerdings auch die offizielle Position der Polizei in Brandenburg bei unserem BBA-Preisträger aus dem Jahr 2020, dem Kennzeichen-Scanner „Kesy“. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass eine großangelegte Vorratsdatenspeicherung von Kennzeichen erfolgte, weil eigentlich immer eine richterlich angeordnete Maßnahme aktiv war, lückenlos, über das Jahr gesehen. Ein Trick, um die „Dauerüberwachung“ eben doch möglich zu machen.
Besonders ärgerlich ist, dass kaum Informationen über den Einsatz von PerIS an die Öffentlichkeit dringen. Auch die Datenschutzbehörden der Länder wissen wenig über den Einsatz und schlagen Alarm. Die Polizeibehörden nutzen das Informationsvakuum, um sich einen rechtsfreien Raum für ihre Ermittlungen mittels PerIS zu schaffen.
Das drohende Ende der Anonymität
Das Thema biometrische Erfassung durch Kameras im öffentlichen Raum, möglicherweise sogar mit verdeckt installierten Geräten, ist ein politisches Streitthema: Hardliner sehen sie als unverzichtbares Mittel im Kampf gegen Terror und schwere Kriminalität. Aus Datenschutz- und Bürgerrechtsperspektive ist es ein Desaster: Mit jeder Kamera werden überwiegend (wenn nicht sogar ausschließlich) Unbeteiligte erfasst. Selbst wenn rechtlich geregelt sein sollte, dass keine Bewegungsdaten aufgezeichnet dürfen und Unbeteiligte sofort wieder gelöscht werden müssen – in Brandenburg hat das beim Kennzeichenscanning niemanden interessiert: Die Datenbank von erfassten Kennzeichen ist auf Millionen Einträge gewachsen.
Das Gefühl, jederzeit von Kameras nicht nur gefilmt, sondern identifiziert und getrackt werden zu können, wird unsere Gesellschaft nachhaltig verändern. Angesichts der aktuellen politischen Verschiebungen – nicht nur in Sachsen – kann einem mulmig dabei werden. Bei der Aushandlung der KI-Verordnung der Europäischen Union liefen Bürgerrechtsorganisationen in ganz Europa Sturm gegen das Szenario einer solchen biometrischen Massenüberwachung durch die Behörden. Leider weitgehend erfolglos. Ein allgemeines Verbot findet sich nicht mehr in der Verordnung. Wieviel Schutz vor biometrischer Dauerüberwachung in der nationalen Gesetzgebung verankert wird, ist gerade Gegenstand von Verhandlungen.
Besser als der ehemalige Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber (SPD) kann man es nicht formulieren: „[Die biometrische Überwachung] könnte gravierende Auswirkungen auf die Erwartung der Bevölkerung haben, im öffentlichen Raum anonym zu bleiben, womit wiederum direkte negative Auswirkungen auf die Ausübung der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie der Freizügigkeit einhergehen.“
So sehen wir das auch – und deswegen darf die biometrische Überwachung im öffentlichen Raum nicht zum Normalfall werden. Weder an der polnischen Grenze noch überall in der EU.
Auch wenn das System in Sachsen offiziell erstmal gebremst ist: Der BigBrotherAward 2024 geht an den sächsischen Innenminister, der uns als PerlS-Pionier eine Kostprobe von dem gegeben hat, was uns demnächst in der EU erwarten könnte, wenn die Regierungsparteien den Einsatz von biometrischer Kontrolle nicht deutlich einschränken.
Herzlichen Glückwunsch, Herr Armin Schuster.