Firma BrainCo und der Leibniz-Wissenschaftscampus Tübingen
Erinnern Sie sich an Ihre Schulzeit? Wissen Sie noch, was Sie gelernt haben? Dreisatz, Prozentrechnung, lateinische Grammatik, Länder dieser Erde, Photosynthese …
Und waren Sie immer aufmerksam? Na …?
Haben Sie nicht auch ganz anderes gelernt, nämlich spontan zu improvisieren, wenn die Hausaufgaben nicht gemacht waren, ein Gedicht aufzuschreiben statt französische Vokabeln zu wiederholen, interessiert zu schauen, während die Gedanken ganz woanders reisen …
„Die Gedanken sind frei! Wer kann sie erraten? Sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen. Es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei!“
Damit ist jetzt Schluss! Endlich ist ein Mittel gefunden, jederzeit die Aufmerksamkeit von Schülerinnen und Schülern im Klassenraum zu überprüfen: Das FocusEdu Stirnband! Es misst die Gehirnwellen der Schülerinnen und Schüler per EEG – in Echtzeit. Damit kann man den Schülern endlich ganz einfach auf die Stirn geschrieben ansehen, ob sie gerade konzentriert sind oder nicht. Eine LED auf dem Stirnband leuchtet deutlich sichtbar: blau wenn entspannt (also unaufmerksam), gelb wenn aufmerksam, rot wenn sehr konzentriert. Die Konzentrationsdaten werden zeitgleich per Funk an den Lehrerrechner übertragen. So kann die Lehrerin auch nach der Stunde noch kontrollieren, wer wann aufmerksam war oder auch nicht. Das können natürlich auch die Schulleitung und die Eltern kontrollieren. Wird alles abgespeichert.
Das ist nicht Science Fiction. Das ist kein Witz.
Das ist unser Preisträger für den BigBrotherAward 2020 in der Kategorie Bildung! Und das ist: Die Firma BrainCo.
BrainCo ist ein Tech-StartUp aus dem Dunstkreis der Harvard Universität und des MIT1 in den USA. BrainCo stellt EEG-Stirnbänder und die Software dazu her und propagiert die Nutzung dieser Stirnbänder im Klassenzimmer. O‑Ton:
„BrainCos FocusEdu bietet die weltweit erste Technologie, die das Engagement der Schüler im Klassenzimmer in Echtzeit quantifizieren kann.“
EEG – „Elektroenzephalografie“ – ist eine Technik, mit der Gehirnwellen ausgelesen werden. Für das Standardverfahren, das „nasse EEG“, müssen die Elektroden dafür mit Kontaktgel auf die Kopfhaut geklatscht werden. Inzwischen gibt es trockene Polymer-Messelektroden. Die sauen nicht mehr die Haare voll und lassen sich einfach in ein schickes Stirnband einbauen. Damit ist der Markt eröffnet.
In Deutschland werden BrainCos Stirnbänder zur Zeit noch vorwiegend zur Selbstoptimierung per Bio-Feedback angepriesen. Aber eigentlich geht es um den Massenmarkt, der sich mit der Digitalisierung der Bildung auftut.2 Mit der Analyse von Gehirnwellen lässt sich angeblich feststellen, wie konzentriert jemand ist. Und diese Technik soll jetzt in die Klassenzimmer einziehen, um die Schülerinnen und Schüler zu besseren Lernleistungen anzutreiben.
Jetzt denken Sie vielleicht: Na gut, aber wenn ein Schüler statt eine Matheaufgabe zu lösen ganz intensiv an einen neuen Reim für einen HipHop-Song denkt, ist er doch auch voll konzentriert – nur auf was anderes. Falsch gedacht. Denn von BrainCo wird nicht nur die Konzentration von Einzelnen ausgewertet, sondern auch, ob das Konzentrationslevel eines Schülers synchron mit den anderen aus der Klasse auf und ab geht. Wenn nicht, ist klar: Er denkt an etwas anderes. Und schon steht die Lehrerin neben dem Schüler – „um ihm zu helfen“.
Kein Entkommen für den jungen Songschreiber.
Keine Chance mehr für Gedankenverbrechen.
Lieber George Orwell, ein Update für „Thought Crime“ ist verfügbar. Wollen Sie es installieren?
Ob die Messung der Konzentration per EEG verlässlich funktioniert, ist dabei fraglich. Denn auch bei medizinisch genutzten EEG ist bekannt, dass schon geringe Bewegungen der Gesichtsmuskeln und der Augen Artefakte erzeugen, die das Ergebnis verfälschen können. Was aber ganz bestimmt funktioniert, ist die Konditionierung der Schülerinnen und Schüler: „Ich muss ganz konzentriert sein, sonst werde ich ertappt, denn es wird alles aufgezeichnet.“
Das ist nicht Lernen – das ist Dressur.
Wir meinen, das ist Digitale Gewalt.
Diese Überwachungstechnik bleibt leider nicht eine Kuriosität im Forschungslabor von BrainCo, sondern sie wird in den USA bereits testweise in Schulklassen eingesetzt – quasi im Freilandversuch. Dasselbe passiert in China. BrainCo-Firmengründer Bicheng Han hat nämlich beste Beziehungen zur Volksrepublik. Der wichtigste BrainCo-Investor ist China Electronics Corporation, die größte staatseigene IT-Firma3, und es gibt Niederlassungen in Beijing, Shenzhen und Hangzhou. Die Fotos und Videos4 von Schulen in USA und China, wo die Stirnbänder eingesetzt werden, sind mehr als verstörend.
Für uns klingt das alles monströs – aber weit weg. So etwas kann doch in Deutschland nicht passieren.
Irrtum!
An der Uni Tübingen forscht seit einigen Jahren eine Gruppe von Wissenschaftler.innen an genau dieser Technik!
Und das ist unser zweiter BigBrotherAwards-Preisträger in der Kategorie Bildung:
Der Leibniz-Wissenschaftscampus der Uni Tübingen.
Das Forschungsprojekt dort heißt „Eine kognitive Schnittstelle zur Verbesserung des Unterrichts: Analyse der Aufmerksamkeit im Klassenzimmer“ und arbeitet ebenfalls mit EEG.5 Auch hier sind die Forscher.innen überzeugt, per EEG Konzentration messen zu können.
In einem weiteren Projekt gehen die Tübinger noch einen Schritt weiter: Per EEG analysiert man bei den Schüler.innen typische Muster der Gehirnaktivität, die dann an ein computerbasiertes Lernprogramm zurückgemeldet werden. Das System erkennt eine Überforderung an winzigen Veränderungen in der Gehirnaktivität und an der Pupille. Wenn ein Schüler mit einer Aufgabe überfordert ist, schaltet das Programm automatisch auf eine leichtere Lernstufe zurück.6
„Um optimal lernen zu können, sollten Aufgaben fordernd, aber weder über- noch unterfordernd sein“, erläutert Gerjets. „Unsere Idee ist deshalb, Lernaufgaben so zu präsentieren, dass die Schwierigkeit konstant in einem mittleren Bereich liegt.“7
Toll. So können die Begriffsstutzigen mit den Mittelmäßigen und den Überfliegern in einem Raum sitzen – aber nicht mehr so, dass sie voneinander lernen, sondern alle in Einzelhaft vor ihrem Computer.
Neben dem EEG machen sich die Forscher aus Tübingen dabei eine weitere Technik zunutze: Eyetracking, also die Verfolgung der Augenbewegungen per Infrarotkamera. Damit können sie feststellen, was ein Schüler gelesen hat und was nicht. Beim Umblättern zur nächsten Seite des Unterrichtsstoffs könnte es so passieren, dass eine Schülerin die Meldung bekommt: „Moment – du hast den Text in dem grauen Kasten noch nicht gelesen.“
Liebe Forscher vom Leibniz-Wissenschaftscampus Tübingen: Glauben Sie ernsthaft, dass Sie so Schülerinnen und Schüler zu Freiheit und Verantwortung erziehen?
Das ist Gängelei. Bevormundung. Und Kleinhalten in der Mittelmäßigkeit.
Ja, es macht Spaß, mit Technik herumzuspielen. Super, wenn man dafür auch noch Forschungsgelder bekommt. Aber es ist Ihre Pflicht, bei all dem auch die größeren Folgen für die Gesellschaft zu bedenken.
Warum überhaupt diese Konzentration auf die Konzentration? Weil sie sich zumindest scheinbar messen, überprüfen, kontrollieren lässt. Weil man damit Rankings machen kann. Möglicherweise, weil Konzerne wie Bertelsmann in Lernplattformen ihre nächste Cash Cow mit Riesen-Wachstumspotential8 sehen.
Opfern wir gerade die wichtigsten Ziele der Bildung – Lernen lernen und Wachsen der Persönlichkeit – einer maschinell überprüfbaren „Leistung“?
Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke und mich frage, was war wirklich wichtig? Dann war das nicht der Lehrstoff an sich – auch wenn der mir eine gute Basis gegeben hat – sondern es war die Persönlichkeit der Lehrerinnen und Lehrer, die mit Leidenschaft, Mut und Engagement bei der Sache waren:
Unser Klassenlehrer Herr Dedering, der eigenmächtig eine von fünf Stunden Deutsch pro Woche in eine Stunde Politik verwandelt hat. Weil er überzeugt war, dass junge Staatsbürgerinnen und -bürger wissen sollten, wie Demokratie, Rechtsstaat und Gesetzgebung funktionieren. Und dass Meinung begründet und politischer Streit geübt werden muss. Herr Halle, dessen soziales Engagement von uns Jugendlichen belächelt wurde und ihm den Spitznamen „Kuchen-Dieter“ einbrachte wegen der vielen von ihm organisierten Basare zugunsten von Schulen in Afrika. Und der doch bei etlichen von uns den Anstoß gegeben hat, uns für eine bessere Welt zu engagieren. Ein großes Danke dafür an meine ehemalige Schule, die Platz für Persönlichkeiten hatte – schräge und fiese, gegen die wir uns behaupten lernten, ebenso wie Vorbilder fürs Leben.
Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn wir alles vergessen haben.
Schließlich gibt es da noch einen Trend, der uns zu denken geben sollte:
Ausgerechnet die Manager und Programmiererinnen von Silicon Valley-Firmen wie Google, Apple, Facebook, Microsoft & Co schicken ihre Kinder inzwischen auf Montessori- und Waldorf-Schulen9 ohne Computer, Tablet und Smartphone10. Im Job arbeiten diese Eltern dafür, dass Menschen möglichst viel Lebenszeit am Computer verbringen. Für ihre eigenen Kinder wollen sie das lieber nicht.
Nein, diese Laudatio ist kein Plädoyer, nun gar keine Computer mehr in die Schule zu lassen. Das liegt uns als Digitalcourage fern – denn wir lieben Technik! Aber diese Laudatio ist ein Plädoyer gegen Digitalisierung als pädagogischen Imperativ und Allheilmittel. Ein Plädoyer gegen die Verdatung und Dauerüberwachung von Schülern, gegen ihre Dressur mittels Lernsoftware und Learning Analytics, gegen die Abwertung der Rolle von Lehrerinnen und Lehrern als menschliches Gegenüber und gegen die Kommerzialisierung der Bildung.
Werden Schülerinnen und Schüler in Zukunft noch etwas Rahmensprengendes wie die Relativitätstheorie erdenken oder sprachgewaltige neue Literatur verfassen, wenn sie nicht mehr aus dem Fenster schauen und ihre Gedanken wandern lassen dürfen? Menschen brauchen das träumerische, kreative und sprunghafte Denken, um auf Neues zu kommen. Wir brauchen das Eigenständige, das Widerständige und das Lernen von Solidarität. Wir brauchen es als einzelne Menschen – und unsere Gesellschaft braucht es auch.
Nochmal zum Mitschreiben: Gewöhnung an Dauerüberwachung darf nicht zum geheimen Lehrplan in Schulen und Hochschulen werden. Der Einsatz von EEG und Eyetracking im Unterricht verletzt die Menschenwürde.
Lassen Sie das sein.
Liebe Preisträger – wir hoffen, Sie haben aufmerksam zugehört und sagen
herzlichen Glückwunsch zum BigBrotherAward, Firma BrainCo und Leibniz-Wissenschaftscampus Tübingen!
- BrainCo widerspricht eigenen Aussagen26.09.2020Update zu BBAs
Laudator.in
1 Massachusetts Institute of Technology in Cambridge, USA.
2 Ein ehemaliger BrainCo-Angestellter bekennt, dass die EEG-Messungen extrem ungenau seien, das Algorithmen-Team von BrainCo ein Chaos und die Firma eher keine Tech-Company sei, sondern vor allem Geld von chinesischen Eltern verdienen wolle. Quelle: indeed.com
3 Zu BrainCos Finanzen (Web-Archive-Link)
4 Fotos in der South China Morning Post: Brainwave-tracking start-up BrainCo in controversy over tests on Chinese schoolchildren, 10 April 2019 (Web-Archive-Link). Mehr Fotos (Web-Archive-Link) und das original BrainCo Focus EDU Video [Video nicht mehr verfügbar]
5 Eine kognitive Schnittstelle zur Verbesserung des Unterrichts: Analyse der Aufmerksamkeit im Klassenzimmer (Web-Archive-Link)
6 Leibniz-Wissenschaftscampus Tübingen, Magazin „Wissensdurst“, Seite 5 und Seite 13 (PDF)
7 Magazin „Wissensdurst“, Wissenschaftscampus Tübingen (PDF)
8 Bertelsmann: Wachstumsfeld Education [Inhalt nicht mehr verfügbar]
(…) sorgt die Digitalisierung dafür, dass Bildung auch online in guter Qualität ausgeliefert werden kann. Dem Segment Bildung kommt im Rahmen der Wachstumsstrategie von Bertelsmann eine besondere Bedeutung zu. Es wird in den kommenden Jahren – neben den klassischen Bereichen Medien und Dienstleistungen – zu einer dritten tragenden Säule eines internationalen und wachstumsstarken Konzern-Portfolios ausgebaut.
9 Tagblatt.ch, 02.04.2019, Adrian Lobe. Bildschirmfrei ist das neue Bio: Warum die Programmierer im Silicon Valley ihre Kinder computerfrei erziehen (Web-Archive-Link)
10 New York Times, 23.10.2011, Matt Richtel. Grading the Digital School – A Silicon Valley School That Doesn’t Compute (Web-Archive-Link)